Einfach kann jede(r) – aber was, wenn man entscheiden muss?

In letzter Zeit nehme ich immer häufiger den Wunsch wahr, dass komplexe Sachverhalte möglichst einfach und klar erklärt werden sollten. Dabei unterscheidet sich das kaum nach privatem oder beruflichem Umfeld. Den Wunsch kann ich sehr gut nachvollziehen, denn gerade, wenn wir im Privaten aufgefordert sind, Stellung zu gesellschaftlichen Themen zu beziehen, oder im Beruflichen wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, sehnen wir uns nach Klarheit und Einfachheit. Darauf folgt dann oft die Erwartungshaltung, jemand müsse einer Person den Sachverhalt doch bitte so erklären, dass ihn auch ein sechsjähriges Kind verstehe, damit man auch in der Lage sei, eine Meinung zu bilden oder eine Entscheidung zu treffen.
Eigenverantwortung
Diese Forderung sehe ich sehr kritisch, da sie die Verantwortung dafür, auch komplexe Sachverhalte zu durchdringen und einschätzen zu können, bei „jemand anderem“ verortet. Daraus folgt dann auch: Wenn niemand erklärt, wie Quantenmechanik funktioniert oder man es nicht versteht, dann ist das nicht das eigene Problem, sondern dann war „jemand anderes“ vielleicht nicht in der Lage, es entsprechend zu vermitteln. Fakt ist, wir leben nicht mehr im Mittelalter, wo es UniversalgelehrtInnen noch möglich schien, das gesamte Wissen der damaligen Zeit zu erlangen. Heute ist offensichtlich, dass dies ein unmögliches Unterfangen ist. Daher ist es hilfreich, dass man in manchen Bereichen vereinfachte Darstellungen konsumieren kann, um zumindest eine ungefähre Vorstellung zu haben. Wenn wir aufgefordert sind, Themen beurteilen zu können und nicht nur eine Meinung zu bilden, dann wird der Ruf nach vereinfachter Darstellung problematisch.
Kompetenz
Kompetenz kommt in mehreren Gewändern daher. Sie kann sich in anwendbarem Wissen zeigen, in speziellen Fähigkeiten und Talenten wie Mustererkennung oder kreativem Denken, in einem reichhaltigen Erfahrungsschatz und darauf basierenden Einschätzungen und vielem mehr. Auf FachexpertInnen treffen meist mehrere dieser Aspekte zu. ExpertInnen liefern nachvollziehbare Argumentationsketten, die auf ihren Kompetenzen beruhen und durch neue Erkenntnisse ergänzt oder verändert werden. Dabei können ExpertInnen durchaus zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen, was es umso schwerer macht, wenn es darum geht, eine fachkundige Entscheidung treffen zu müssen. Manche ExpertInnen sind sicherlich sehr gut in der Lage, ihr Fachgebiet auch einfach darzustellen, zum Beispiel auf einem Niveau, das auch Kinder verstehen. Andere sind vielleicht nicht so sprachlich begabt. Daraus abzuleiten, dass diese ihr Fachgebiet nicht so gut verstanden hätten, weil sie es nicht einfach erklären können, ist ein logischer Fehlschluss. Zudem gibt es Phänomene wie Inselbegabungen oder Neurodiversität, die besonders in hochkomplexen Umfeldern gehäuft auftreten können.
Dunning-Kruger
Ein interessantes Phänomen tritt auf, wenn wir – zum Beispiel durch eine vereinfachte Erklärung eines Sachverhalts – eine erste Vorstellung eines komplexen Sachverhalts bekommen haben. Wir sehen uns nun in der Lage, eine Meinung dazu zu bilden, was uns ein Gefühl von Kompetenz vermittelt. Damit einher geht aber auch oftmals, dass wir die Kompetenz von FachexpertInnen, die wirklich tief im Thema stecken, nicht erkennen können und gnadenlos unterschätzen. Ein Phänomen, das man auch in Talkshows oft vorfindet, wenn in einer Diskussionsrunde, wo jede Person eine Meinung zu dem Thema hat, einE FachexpertIn eingeladen ist, der/die auch entsprechende Expertise besitzt. Effekte wie persönliche Skepsis (die Behauptung, etwas wäre nicht wahr, weil man es schwer verständlich findet oder nicht weiß, wie es funktioniert) oder eine falsche Ausgewogenheit (der Meinung von ExpertIn und LaieIn wird gleicher Raum und gleiche Wertigkeit zugesprochen) sind dort häufig zu beobachten. Ein erster – aber wichtiger – Schritt ist es, sich des Dunning-Kruger-Effektes bewusst zu werden.
Wie viel Expertise braucht es?
Gerade in beruflichen Umfeldern gibt es sehr häufig die Notwendigkeit, dass jemand eine Entscheidung treffen muss, weil er oder sie in einer bestimmten Position ist und nicht, weil die größte Fachkenntnis vorliegt. Gerade in komplexen Organisationen ist es oftmals auch so, dass Entscheidungen nicht nur von der rein fachlichen Seite aus getroffen werden müssen, sondern sich in ein strategisches, politisches oder ökonomisches Umfeld mit bestimmten Voraussetzungen einfügen müssen, wobei vielleicht nicht alle wichtigen Fakten offen geteilt oder zugänglich sind. Hier entsteht ein Spannungsfeld für die EntscheidungsträgerInnen, denn sie müssen eine Fachentscheidung nachher verantworten, besitzen aber höchstwahrscheinlich nicht so viel Fachwissen wie die FachexpertInnen, die mit Vorschlägen kommen. Auf der anderen Seite haben sie mehr Einblicke in den Gesamtkontext, der den FachexpertInnen nicht bekannt ist und der sie vielleicht auch gar nicht interessieren muss.
Hier hilft es den EntscheiderInnen, wenn sie sich des Dunning-Kruger-Effektes bewusst sind und ihre eigenen Grenzen kennen. Im Optimalfall würden EntscheiderInnen die Rahmenbedingungen so klar formulieren, dass die FachexpertInnen auf dieser Basis die beste Fachentscheidung treffen können, also Fachwissen und Kontextwissen zusammenfallen. Das wäre reines Empowerment, so dass jeweils die kompetenteste Person auch die Entscheidung trifft. Doch oftmals kann oder darf einE EntscheidungsträgerIn gar nicht alle Rahmenbedingungen nennen. Dann muss er/sie in der Lage sein, mit dem eigenen Verständnis die besten Lösungsoptionen von den FachexpertInnen aufzunehmen und daraus auszuwählen.
Wie entscheiden, wenn die Tiefe fehlt?
Je komplexer die Thematik, desto schwieriger wird dieses Unterfangen für die EntscheiderInnen. Nun gilt es, FachexpertInnen inhaltlich zu vertrauen und auf Basis dessen, was man verstanden hat, die vermeintlich beste Entscheidung zu treffen. Vertrauen ist in diesem Fall keinesfalls blindes Vertrauen, sondern basiert auf Kompetenz und Erfahrung gegenüber den FachexpertInnen. Und dies kann man einschätzen lernen. Dafür bedarf es noch nicht mal eines tiefen Fachwissens, denn einen ersten Eindruck kann man schon daran gewinnen, wie kohärent und konsistent ein Vorschlag verargumentiert wird. Und natürlich ist ein Einarbeiten in das Thema, immer mit dem Dunning-Kruger-Effekt im Hinterkopf, unerlässlich.
Unsicherheit
Am Ende bleibt häufig doch die Unsicherheit. Denn die EntscheiderInnen werden im beschriebenen Szenario immer mit Halbwissen entscheiden müssen und den FachexpertInnen in ihren Vorschlägen und Erklärungen vertrauen müssen. Der Impuls, auf die Fachdetails herabzusteigen und dort mitzudiskutieren, ist oftmals nur ein Versuch, sich die scheinbare Sicherheit und eigene Kontrolle zurückzuholen, bringt aber aufgrund fehlender eigener Tiefe meist nichts (zumindest nicht, wenn man gute ExpertInnen an Bord hat) und kostet zudem noch Zeit, die man meistens nicht hat. Dies ist ein schwieriger Schritt für EntscheiderInnen, der aber hilfreich ist, in komplexen und volatilen Kontexten erfolgreich zu sein. Eine Garantie, selbst wenn man den besten ExpertInnen vertraut und die eigenen Grenzen akzeptiert, gibt es allerdings dennoch nicht, denn Unvorhersehbares kann immer eintreten. Dann gilt es, mit der richtigen Kompetenz darauf zu reagieren.
Praktische Handlungsoptionen für EntscheiderInnen
Ein wichtiger Aspekt ist es, sich klarzumachen, dass man selbst für seine Fachkenntnis verantwortlich ist. Es ist zwar hilfreich, sich mit Vereinfachungen an ein Thema anzunähern, zum Beispiel über Zusammenfassungen von Büchern (Blinkist, getAbstract und Co.) oder über Einführungsvideos auf Videoplattformen. Spätestens, wenn der Bereich aber zum eigenen Verantwortungsbereich wird, sollte man beginnen, Fachliteratur intensiv zu lesen und auch in den Austausch mit anderen FachexpertInnen zu treten. Es gilt, aktiv an der eigenen Kompetenz zu arbeiten.
Aktives Arbeiten an der eigenen Kompetenz kostet Zeit, Aufwand und Energie, die wiederum woanders fehlt. Daher ist es wichtig, eine gute Balance zu finden. Die meisten EntscheiderInnen verantworten einen bestimmten Bereich und können nicht in allen Fachthemen in der notwendigen Tiefe abtauchen. Und selbst wenn, würden wahrscheinlich die FachexpertInnen, deren Hauptaufgabe das Thema darstellt, ihnen an Tiefe und Erfahrung deutlich voraus sein. Daher sollte man gut abwägen, wie tief man einsteigen muss, um Fachmeinungen einschätzen zu können. Dazu gehört dann nicht nur, das Fachthema selbst zu kennen, sondern auch rhetorische Figuren, Kohärenz und Konsistenz sowie Konzeptklarheit der FachexpertInnen einschätzen zu können. Wer weiß wirklich, wovon er/sie spricht und wer spiegelt nur vor? Die Beschäftigung mit logischen Fehlschlüssen (yourlogicalfallacies.com) und Verzerrungen (Bias) ist hier ein erster guter Ansatzpunkt.
Eine Verzerrung, der wir nur allzu schnell unterliegen, ist der Dunning-Kruger-Effekt, der uns zur Selbstüberschätzung verleitet. Wenn wir uns dieser Verzerrung bewusst sind, verliert sie etwas an Kraft. Es ist hilfreich, immer wieder mit der Haltung eines Anfängergeistes an Entscheidungen heranzugehen. Sich einzugestehen, dass wir eigentlich nichts wissen und auch jede Entscheidung durch neue oder andere Erkenntnisse anders ausfallen könnte, ist ein wichtiger Schritt. Das kann zwar verunsichern, aber wenn wir lernen, gelassen damit umzugehen und auch unter Unsicherheit einen klaren Standpunkt zu beziehen, dann machen wir unser Leben und das unserer Mitmenschen leichter.
Und zuletzt hilft auch das Prinzip der Subsidiarität bei Fachentscheidungen. Dieses besagt, dass Entscheidungen möglichst auf der kleinsten und lokalsten möglichen Ebene getroffen werden können. Das heißt, wenn der/die EntscheiderIn den Kontext und Rahmen umfassend aufdecken und vermitteln kann, können FachexpertInnen autonom die bestmögliche Entscheidung treffen. Dies erfordert natürlich Vertrauen, das kein blindes Vertrauen sein sollte, sondern ein auf Kompetenz und Erfahrung basierendes.

Fazit
EntscheidungsträgerInnen profitieren von einer Haltung des Nichtwissens und der Fähigkeit, die Kompetenz von FachexpertInnen einschätzen zu lernen und dadurch Vertrauen zu entwickeln. Die Vereinfachung komplexer Sachverhalte ist hilfreich, um Meinungen zu bilden, aber viel zu wenig, um dadurch wichtige Entscheidungen zu treffen. Zudem verleiten sie zum Dunning-Kruger-Effekt, bei dem wir unsere eigene Kompetenz über- und die wahren ExpertInnen unterschätzen. Sich dieser Verzerrungen bewusst zu werden und zu akzeptieren, dass man FachexpertInnen bessere Fachentscheidungen treffen lassen kann, ist ein wichtiger Lernprozess für EntscheiderInnen. Manchmal ergeben sich aber Situationen, in denen man den FachexpertInnen nicht alle Informationen offenlegen kann oder darf und EntscheiderInnen eine Fachentscheidung treffen müssen, für die das Detailwissen fehlt. Dann ist es hilfreich, erkennen zu können, welche FachexpertInnen wissen, wovon sie reden, und wem man vertrauen kann, um ohne eigenes Verstehen des kompletten Sachverhalts hilfreiche Entscheidungen treffen zu können. Zuletzt gehört auch ein Verständnis dazu, dass wir nie eindeutig vorhersehen können, ob eine Entscheidung auch zum gewünschten Erfolg führt, weil immer Unvorhersehbares eintreffen kann. Damit gelassen umzugehen und dies im Sinne eines wachstumsorientierten und lernorientierten Mindsets anzunehmen, ist ein wichtiges Lernfeld für EntscheiderInnen.